- 15.09.2025
- Interview
- Branche & Märkte
Coffee Talk „Wo sollte eine erfolgreiche Reise der europäischen Aluminium Gießerei Industrie hingehen, Herr Professor? “
Christopher Boss und Johannes Messer hatten im Nachgang des dritten EUROGUSS Executive Circle Gelegenheit zu einem kurzen Coffee Talk mit dem renommierten Automotive Branchenexperten und Key Note Speaker der Veranstaltung Prof. Dr. Stefan Bratzel.
Geschrieben von Editors EUROGUSS 365

Prof. Dr. Stefan Bratzel ist Gründer und Direktor des Center of Automotive Management (CAM) in Bergisch Gladbach und gilt als einer der führenden Experten der Automobil- und Mobilitätsbranche. Nach dem Studium der Politikwissenschaft an der Freien Universität Berlin promovierte er und war anschließend als wissenschaftlicher Mitarbeiter tätig. Berufliche Stationen führten ihn u.a. als Produktmanager zu Daimler (smart) sowie als Programm-Manager und Leiter Geschäftsentwicklung in namhafte Unternehmen der Branche. Seit 2004 ist er als Professor und Studiengangleiter für Automotive Management an der Fachhochschule der Wirtschaft tätig. Seine Forschungsschwerpunkte liegen auf Innovationstrends der Automobilindustrie und den Zukunftsfragen der Mobilität.
Christopher Boss/Johannes Messer
Zunächst noch einmal herzlichen Dank für Ihre interessante und inspirierende Key Note beim dritten EUROGUSS Executive Circle. Das europäische Aluminium- Gießereinetzwerks verfolgt das Ziel, gemeinsam mit der Automobilindustrie technologisch und wirtschaftlich automobile Benchmark-Gussprodukte zu entwickeln und zu industrialisieren. Total cost of ownership muss das gemeinsame Ziel sein. Halten Sie den gewählten Ansatz (Zusammenarbeit, gemeinsames Ziel) für richtig?
Prof. Dr. Stefan Bratzel
Ja, dieser Ansatz ist nicht nur richtig, er ist in der aktuellen Transformationsphase der Automobilindustrie geradezu zwingend. Wir befinden uns in einer der tiefgreifendsten Umbruchsituationen seit Bestehen der Branche: Dekarbonisierung, Digitalisierung, disruptive Geschäftsmodelle und ein massiver globaler Wettbewerb – insbesondere aus China – verändern die Wertschöpfungsketten grundlegend. In diesem Kontext reicht es nicht mehr, dass Zulieferer rein ausführend agieren. Sie müssen zu strategischen Innovationspartnern werden.
Ein europäisches Gießereinetzwerk, das sich bewusst auf gemeinsame Entwicklungsziele mit den OEMs fokussiert, hat das Potenzial, technologische Exzellenz mit wirtschaftlicher Skalierbarkeit zu verbinden. Gerade der Fokus auf Total Cost of Ownership ist zentral. Es geht nicht mehr nur um den Stückpreis eines Bauteils, sondern um die Effizienz und Nachhaltigkeit des gesamten Fahrzeugsystems über seinen Lebenszyklus hinweg. Gießereien, die sich hier als Entwicklungspartner mit Systemverständnis positionieren, werden auch künftig unverzichtbar sein.
Zudem stärkt eine solche Netzwerkstruktur die europäische Industrie insgesamt.
Christopher Boss/Johannes Messer
In vielen Ihrer Veröffentlichungen empfehlen Sie Innovationen als wesentlichen Erfolgsgarant im internationalen Wettbewerb. Im Bereich Automotive war Europa bei den Innovationen und Industrialisierung immer auf den vorderen Plätzen. Was müssen wir tun, um dort wieder hinzukommen?
Prof. Dr. Stefan Bratzel
Europa hat eine starke industrielle Basis und jahrzehntelange Erfahrung in Fahrzeugtechnik, Sicherheit und Produktion. Aber: Diese Kompetenz droht zu erodieren, wenn wir uns zu sehr auf inkrementelle Optimierungen konzentrieren, während andere Regionen – insbesondere China – massiv in disruptive Technologien und Plattformmodelle investieren. Innovation ist nicht nur eine technische, sondern vor allem auch eine kulturelle und strategische Frage.
Was also ist zu tun?
- Systemisches Denken fördern: Gießereien müssen sich stärker als Teil einer ganzheitlichen Fahrzeugarchitektur begreifen. Themen wie Strukturleichtbau, Funktionsintegration, Thermomanagement oder Recyclingfähigkeit müssen frühzeitig mitgedacht werden – gemeinsam mit OEMs, Tech-Partnern und Forschungseinrichtungen.
- Mehr Mut zur Vorwärtsstrategie: Innovationen entstehen nicht im Tagesgeschäft, sondern durch gezielte Investitionen in Entwicklung, in Talente und in neue Geschäftsmodelle. Europa braucht hier mehr Zukunftsoptimismus und weniger Angst vor Disruption. Wer nur auf bestehende Programme wartet, verpasst den Wandel.
- Kooperation statt Konkurrenz: Gerade mittelständische Gießereien können durch Allianzen – wie dem genannten Netzwerk – Entwicklungsrisiken teilen, Know-how bündeln und neue Märkte erschließen. In China sehen wir, wie strategische Allianzen staatlich gefördert und privatwirtschaftlich beschleunigt werden. Hier müssen wir in Europa klüger agieren.
- Politik mit industriepolitischer Flankierung: Europa darf die Industrie nicht nur über Regulierung steuern. Es braucht gezielte Innovations- und Investitionsanreize, insbesondere für energieintensive Branchen wie die Gießereien. Wer CO₂ einsparen will, muss auch bereit sein, Investitionen in Effizienz und Kreislaufwirtschaft zu ermöglichen.
Am Ende geht es um eine Renaissance der europäischen Innovationskraft – aber auf Grundlage der heutigen Realität: globaler Wettbewerb, neue Technologiefelder, verändertes Nutzerverhalten. Wer diese Entwicklungen ignoriert, verliert – wer sie gestaltet, kann wieder an die Spitze zurückkehren.
Christopher Boss/Johannes Messer
China investiert massiv in neue Fertigungstechnologien wie Giga Casting und hat große Teile der E-Mobilitätswertschöpfung im eigenen Land aufgebaut. Wie beurteilen Sie Europas aktuelle Wettbewerbsposition im Aluminiumdruckguss?
Prof. Dr. Stefan Bratzel
China hat in den letzten fünf Jahren nicht nur technologisch, sondern auch strukturell massiv aufgeholt. Europa hingegen leidet unter hohen Energiekosten, zersplitterten Lieferketten und einem teilweise zu langsamen politischen Entscheidungsprozess.
Wenn wir den industriellen Kern Europas erhalten wollen – und das schließt die Aluminiumdruckguss-Industrie ein –, dann brauchen wir nicht weniger als einen strategischen Neustart: Mit klarer Technologie-Roadmap, internationaler Zusammenarbeit und einem industriepolitischen Schutzschirm, der nicht vor Konkurrenz schützt, aber vor Standortverfall.



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